Was in Fernsehkrimis in einer Stunde geschieht, dauert in echt teilweise mehrere Jahre: die Aufklärung von ungelösten Mordfällen. Ermittler Enrico Petzold ist ein ausgezeichneter Kriminalist und hat immer wieder ungelöste Fälle auf dem Tisch.
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Mordermittler: Ich möchte sagen können, dass wir alles Menschenmögliche getan haben
Noch ist der Bildschirm schwarz. Der Computer fährt gerade hoch. Links und rechts der Tastatur liegen zentimeterdicke Akten. Neben aktuellen Morddelikten könnten das zum Beispiel auch Cold Cases sein – zu Deutsch Altfälle. Es ist 8 Uhr, Kriminalist Enrico Petzold macht sich mit einem Kaffee an die Arbeit. Eine schöne Vorstellung, aber kein typischer Dienststart bei der Mordkommission in Zwickau: „So ein Morgen kann sich blitzschnell ändern“, weiß der erfahrene Polizist. „Mord richtet sich nicht nach dem Dienstplan.“ Es kann auch sein, dass mitten in der Nacht das Telefon klingelt und es in den Einsatz geht.
Der heute 52-Jährige Enrico Petzold war Chefermittler im Fall Heike Wunderlich, die zu DDR-Zeiten ermordet wurde. Die junge Frau war am 9. April 1987 mit ihrem Moped unterwegs gewesen. Sie war auf dem Heimweg von Plauen nach Altensalz, kam dort aber nie an. Einen Tag später fand man im Voigtsgrüner Wald ihre Leiche, daneben das Moped. Heike Wunderlich wurde nur 18 Jahre alt. Die junge Frau mit den schulterlangen schwarzen Haaren lag im Dreck, nackt und übersäht mit blauen Flecken. Sie war vergewaltigt und erdrosselt worden. Alle Ermittlungen blieben damals erfolglos.
Nach der Tat sollte es fast 30 Jahre dauern, bis Ermittler Enrico Petzold das Verbrechen aufklären konnte.
Enrico Petzold: „Ich wollte den Fall übernehmen“
1987 – in dem Jahr hatte Petzold gerade sein Abitur abgelegt und bei der Volkspolizei Sachsen angefangen. Durch die Wende konnte er sein Kommissarsstudium nicht beenden und fing im mittleren Dienst bei der Bereitschaftspolizei an. Im Jahr 1994 wagte er einen zweiten Anlauf – und hatte Erfolg. Petzold schaffte es in den ersten Jahrgang an die Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) in Rothenburg/Oberlausitz. Ein Praktikum führte ihn zur Chemnitzer Mordkommission. „Da habe ich schon gesagt: Wenn ihr irgendwann mal eine freie Stelle habt, gebt mir Bescheid“, erinnert sich der Ermittler. Nach dem Studium ging es für ihn aber erstmal wieder zur Bereitschaftspolizei. Im August 2000 war es so weit, Enrico Petzold startete als Sachbearbeiter in der Mordkommission. Dort hatte sich damals ein Kollege dem Fall Heike Wunderlich angenommen, nochmal Spuren ans Landeskriminalamt geschickt. Auch Petzold interessieren die Unterlagen zum Fall Wunderlich: „Ich hatte da gerade frisch angefangen und habe auch mal in die Akten geguckt“, so Petzold. „Das waren da schon um die sechs oder sieben Ordner voll mit 800 Karteikarten – alle mit Schreibmaschine getippt.“ Aber das schreckte ihn nicht ab. „Die Ermittlungsansätze waren gut und ich empfand den Fall als eine Herausforderung“. Kurze Zeit später fragte er den Leiter des Dezernates, ob er den Fall übernehmen könne. Mit Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen tippte der junge Ermittler jedes Protokoll händisch ab, um es zu digitalisieren.
Im Jahr 2005 wurde das damalige Polizeipräsidium Chemnitz aufgelöst und der Kriminalist zog samt seiner Ordner zur Polizeidirektion Zwickau um. Den Fall nahm er mit. Untersuchungen im Labor des Landeskriminalamtes hatten bis dato aber immer noch kein brauchbares Ergebnis geliefert. Wann immer der Kriminalist freie Spitzen hatte, beschäftigte er sich mit dem ungeklärten Morddelikt. Etwa 1.200 Mal ist er während dieser Zeit nach Plauen und Umgebung gefahren.“
Aufgeben war keine Option
Aus den sechs Ordnern wurden im Laufe der Ermittlungen rund 200. Petzold und seine Kolleginnen und Kollegen legten 14 verschiedene Untersuchungskomplexe fest, nach denen sie den Fall untersuchten. Einer richtete sich auf das familiäre Umfeld, weitere beleuchteten Personen rund um den Wohnort oder den Arbeitgeber. In den Fokus rückten auch vergleichbare Straftaten, die eventuell mit dieser Tat in Verbindung gebracht hätten werden können. Insgesamt haben die Ermittler rund 12.000 Personen in diesen Komplexen erfasst und 5.500 davon befragt. „Der tatsächliche Täter rutschte aber nie hinein“, sagt Petzold. „Die Lösung war sehr kompliziert und wir hatten am Ende auch echt viel Glück“.
Spur 29.2 brachte den Durchbruch
Enrico Petzold wandte sich im Sommer 2015 dann zum insgesamt vierten Mal zur Untersuchung an das Kriminalwissenschaftliche und -technische Institut (KTI) im Landeskriminalamt. Es gab eine neue Untersuchungsmethode, die es ermöglichte, aus kleinsten Hautschuppen die DNA ziemlich genau zu bestimmen. „Wir haben uns dann entschieden, das komplette Spurenmaterial noch einmal einzuschicken. Das Gepäckband vom Moped oder den BH und andere Kleidungsstücke hatten wir noch“, sagt er. „Ich bin auch echt dankbar, dass die Spezialisten im Labor die Stücke auch noch ein drittes und viertes Mal untersucht haben.“ Als Beweismittel wurde unter anderem auch besagter BH eingeschickt, den der Täter verknotet als Drosselwerkzeug benutzt hatte. Genau dieser Knoten war es, der über Jahrzehnte kleine Hautschuppen konserviert hatte. Im Februar 2016 kam der DNA-Bericht aus dem Labor: „Ich erinnere mich noch ganz genau, es war die Spur 29.2 – diese Nummer hatte der Drosselknoten“, und aus eben dieser Spur konnte eine unbekannte männliche DNA extrahiert werden. „Als ich das Gutachten gelesen habe, war ich erstmal von den Socken.“ Die DNA wurde direkt mit der Datenbank des LKA abgeglichen, es gab eine Übereinstimmung: Helmut S. aus Gera. „Das war der Durchbruch!“, so Petzold.
Wie der Täter durch das Raster rutschte
Der Mann war in der Datenbank, weil er in Thüringen einer Vergewaltigung überführt worden war. Der Treffer kam gerade noch rechtzeitig, erklärt der Ermittler: „Nach der Verjährungsfrist von zehn Jahren wäre dieser Treffer in wenigen Monaten gelöscht worden.“ Die Unterstützung der Thüringer Polizei war ein „Schlüssel zur Aufklärung“, so Petzold. Aus dem Gericht in Gera und der StaSi-Unterlagen-Behörde bekam Petzold Strafakten aus DDR-Zeiten. Nun wurde klar: Helmut S. hatte auch zu dieser Zeit schon Straftaten begangen, von Diebstahl bis Missbrauch. Bereits im Sommer 1989, nur zwei Jahre nach dem Mord an Heike, soll Helmut S. versucht haben, eine Arbeitskollegin seiner damaligen Freundin zu vergewaltigen. Da er aber die Absicht hatte, aus der DDR zu fliehen, wurde er vorrangig wegen „versuchter Republikflucht“ verurteilt. Die Unterlagen über ihn wanderten in das damalige Ministerium für Staatssicherheit. So geriet Helmut S. im Fall Heike Wunderlich nicht in den Fokus. „Im Nachgang betrachtet wäre er ohne diese Republikflucht definitiv im Raster der Ermittler von damals gelandet“, so Petzold. Auch in den 90ern hatte er Straftaten begangen. Unter anderem wurde er 1992 verurteilt, er hatte sein weibliches Opfer gewürgt, um ein Sexualverbrechen zu verdecken. „Der Mann hatte also schon eine richtige Verbrecherkarriere hinter sich“, erklärt Petzold.
Auch alles andere passte dann, sagt er: „Seine Mutter wohnte in dem Gebiet, wo Heike gefunden wurde, er kannte sich rund um den Bereich an der Talsperre Pöhl und den Voigtsgrüner Wald aus, er hat sich nach der Tat eine Woche krankschreiben lassen.“ Die Indizien reichten für die Anklage aus.
Der Tag der Festnahme
Als Polizistinnen und Polizisten den Beschuldigten festnahmen, war er körperlich bereits stark beeinträchtigt und konnte sich nach einem Schlaganfall nicht mehr richtig artikulieren. „Ich wusste, dass er die Tat nicht mehr selbst gestehen wird“, sagt Petzold. „Aber es gab nach diesen Indizien keinen Zweifel mehr.“
An den Tag der Festnahme erinnert er sich noch genau: „Das Schönste war, an diesem Montagabend zur Familie Wunderlich zu fahren und ihnen zu sagen, dass wir nach fast 30 Jahren den Mann festnehmen konnten, der das getan hat.“ Nach so langer Zeit des Wartens hätte ihn die Familie nur noch ungläubig angeguckt: „Die konnten das gar nicht fassen.“ Es sind Momente wie diese, für die Kriminalist Enrico Petzold arbeitet.
Ende 2016 wurde er für die Aufklärung des Falls mit dem Paul-Köttig-Preis ausgezeichnet – die wichtigste Ehrung für Kriminalisten im Freistaat Sachsen. Dieser Preis sei für ihn aber nicht von großer Bedeutung, sagt er, es sei viel wichtiger zu zeigen, dass die Ermittler-Arbeit auch nach so langer Zeit von Erfolg gekrönt sein kann. „Ich möchte einfach immer sagen können, dass wir wirklich alles Menschenmögliche getan haben.“
Der lange Weg bis zum endgültigen Urteil
Nun übernimmt die Justiz, das erste Verfahren vor dem Landgericht Zwickau dauerte insgesamt 42 Verhandlungstage. Unter anderem sagte auch die Stiefschwester von Helmut S. aus, weil er sie überfallen haben soll. Der Angeklagte wird am 30. August 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt, doch er legt Revision ein. Ein Jahr später bestätigt der Bundesgerichtshof in Leipzig das Urteil aus Zwickau. Helmut S. bleibt lebenslang hinter Gittern.
Der aktuelle Cold Case auf dem Schreibtisch
In den Mordkommissionen der Polizei Sachsen werden aktuelle und ältere Delikte gleichermaßen behandelt. Gerade beschäftigen Enrico Petzold und seinen Team-Kollegen zwei Fälle, die in unmittelbarem Zusammenhang stehen. In einem Altkleidercontainer in Schwarzenberg wurde am 19. Januar 2011 ein toter männlicher Säugling entdeckt, nur ein Jahr später wurde in Tschechien – acht Kilometer hinter der Grenze – ein weiterer toter Junge im Straßengraben gefunden. Die DNA-Untersuchung belegte zweifelsfrei: Diese beiden nur wenige Stunden alte Kinder sind Geschwister. Ende 2019 meldete sich ein glaubwürdiger Zeuge, der eine Frau gesehen haben will. „Wir haben seitdem eine Fahndung draußen“, so der Ermittler, der nicht aufgeben will.
Warum es Berufung ist
Seit knapp 21 Jahren arbeitet der Ermittler bei der Mordkommission. Er weiß, wie langwierig und mühsam es sein kann, ungelöste Fälle aufzuklären: „Wir klären Morde selten in einer Stunde und drei Werbepausen auf, wie das im Fernsehen oft gezeigt wird“, lächelt Petzold. „Und ich verstehe bis heute nicht, warum meine Frau so gerne Krimis guckt“, ergänzt er. „Wenige Filme oder Serien kommen wirklich an unsere Arbeit heran.“
Sein Beruf bedeutet, eng mit anderen polizeilichen Gewerken zusammenzuarbeiten. Das können Spurensicherung, Taucherstaffel oder auch Rechtsmediziner sein. Er gibt aber auch zu bedenken: „Man sieht auch viele unschöne Dinge“, und Kriminalisten seien keine Maschinen. Seine Familie gebe ihm den nötigen Rückhalt. „Ich kann mit meiner Ehepartnerin und meiner Familie darüber sprechen, ohne ins Detail zu gehen“, so Petzold. Wer diesen Beruf wählt, müsse wissen, „dass es Phasen gibt, wo es an die Substanz geht.“ Dennoch, Enrico Petzold möchte nichts anderes machen: „Sonst hätte ich mich nicht dafür entschieden.“
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